Hans-Rüdiger Wiehle *30.5.1933 – Napola bis zuletzt

Wenn ich an meine Kindheit und meinen Vater denke, dann kommt mir als erstes seine harte Hand in den Sinn. Und ich meine das nicht im übertragenen, sondern im direkten Sinn. So wie ich das heute abrufen kann, fürchtete ich stets um mein Leben, wenn es eine Tracht Prügel gab.

Woher kam diese Härte, diese Gewalttätigkeit? Und warum entlud sie sich immer wieder an mir? Mein Vater war weder Alkoholiker, noch hatte er finanzielle Sorgen. Er war Akademiker, genauer gesagt Professor für Informatik, verbeamtet. Umfassend gebildet, vielseitig interessiert.

Für mich als Kind hat sich mein Vater nie interessiert. Seine Wahrnehmung konzentrierte sich auf Wolfgang, seinen Erstgeborenen.

Vor allem dessen Intelligenz fand bei Rüdiger früh Beachtung und wurde gefördert. Wenn mein Vater von mir überhaupt Notiz nahm, dann um mich mit Wolfgang zu vergleichen. Er gab mir das Gefühl, als wäre ich kein eigenständiges Wesen, sondern nur die schlechtere Ausgabe meines älteren Bruders. Dabei war ich immer ganz anders als er.

Mein Vater starrte wie ein Forscher, der ein seltenes Insekt gefunden hat, völlig gebannt auf meinen Bruder und analysierte fasziniert dessen geistige Entwicklung. Individualität, Charakter, die Seele eines Menschen – das waren für meinen Vater irrelevante, wenn nicht gar ihm gänzlich unbekannte Größen. Der einzige Maßstab, nach dem er mich (wie auch Wolfgang) beurteilte, war die Fähigkeit zur abstrakten Intelligenz.

Frustration und Selektion

Zu Rüdigers fester Überzeugung gehörte die Grundüberzeugung, dass Lernen durch Frustration geschehe. Wer der Frustration nachgebe, würde es zu nichts bringen. Das hat er immer wieder ausgesprochen. Dahinter steht das Prinzip der Auslese.

Selektion und Frustration als Kernüberzeugungen meines Vaters haben sehr viel mit seinem Werdegang zu tun. So wurde auch Rüdiger als Kind von seinem Vater nicht gesehen, obwohl er dessen einziger Sohn war.

Dass Rüdiger bereits als Grundschüler durch seine ausgezeichneten Leistungen auffiel, hat seinen Vater Johannes nicht im Geringsten interessiert. Johannes Wiehle war wie so viele seiner Generation nur physisch aus dem 1. Weltkrieg zurückgekehrt, innerlich ist er in den Schützengräben Flanderns geblieben. Was sollten einem Soldaten gute Schulnoten nützen, wenn ihm in jeder Sekunde der Kopf weggeschossen werden konnte? Statt Lob oder Anerkennung erntete Rüdiger für seine Begabung von seinem Vater nur Geringschätzung. Diese Kränkung hat er Zeit seines Lebens nicht verwunden.

Napola: Elite für immer

Dass mein Vater mit gerade einmal neun Jahren auf die Napola (Nationalpolitische Erziehungsanstalt) nach Berlin Spandau ging, ist vor dem Hintergrund dieser Geschichte sicherlich kein Zufall. Rüdiger hat später über seine Zeit in der Napola so gut wie nichts erzählt.

Aber eine Sache wurde er nicht müde zu erwähnen: Dass er als „Pimpf“, der er ja noch gewesen sei, nur aus eigenem Antrieb und ganz allein zur Napola gegangen sei. So wollte er das jedenfalls sehen. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass Rüdiger damit seinem Vater gleichzeitig imponieren wollte, waren doch die Napolas für ihren paramilitärischen Drill bekannt und berüchtigt (viele von ihnen, wie auch die Napola Spandau, waren aus ehemaligen Kadettenanstalten hervorgegangen). Vielleicht sah er sich auch als prädestiniert für die Napola als eine der Elite-Schulen im Dritten Reich, weil er hoffte, hier endlich für sein Können gesehen zu werden.

Wer auf die Napola gehen wollte, der musste sich zunächst einem Ausleseverfahren unterziehen. Hier wurden die neuen Schüler nicht nach ihrer sozialen Herkunft oder den finanziellen Möglichkeiten ihrer Eltern ausgesucht, sondern vor allem nach ihrer Begabung, ihrer Konstitution und vor allem auch nach „Erbgesundheit und Erbtüchtigkeit der Sippe“ (Zitat aus Leeb, S. 182). Ziel der tagelangen Prüfungen und Mutproben war es, „Schwächlinge“ oder „Feiglinge“ bereits bei der Aufnahme auszusortieren.

Wer später das Klassenziel nicht erreichte, konnte nicht wiederholen, sondern musste die Napola verlassen. Auslese war die beherrschende Größe im Schulbetrieb der Napola. Der Gedanke, einer Elite anzugehören, wurde den Internatsschülern sehr früh eingepflanzt, indem man ihnen pausenlos eintrichterte, sie seien „besser, leistungsfähiger, wertvoller als die da ‚draußen‘“ (Leeb S. 17).

Das Prinzip der Auslese ist meinem Vater in Fleisch und Blut übergegangen. Als Professor eilte ihm der Ruf voraus, ein Schleifer zu sein, weil er seine Studenten gerne reihenweise durch ihre Prüfungen fallen ließ. Sein Originalton dazu: „Der Leichengeruch muss durch die Gänge ziehen“.

In seiner Vaterrolle hatte er sich zum Ziel gesetzt, aus seinem Sohn Wolfgang den nächsten Eliteschüler zu machen. Und als Privatmensch pflegte er keinerlei Kontakt oder Umgang mit Nicht-Akademikern, er sprach nicht einmal mit ihnen. Handwerker waren für ihn nichts anderes als Dienstboten, die er bezahlen musste. Seine geistigen Voraussetzungen, sein akademisches Studium inklusive Studienstiftung und Promotion wie auch die frühen und prägenden Jahre in der Napola hatten in ihm einen Standesdünkel entstehen lassen.

Härte und Drill. Und das Schweigen über die Schatten

Wie ich bereits erwähnte, hat mein Vater nie über seine Zeit in der Napola gesprochen. Ich weiß also nichts über seine Erfahrungen, die er dort gemacht hat. Daher stütze ich mich auch hier auf die Berichte anderer. Wer den Film „Napola“ gesehen hat oder die einschlägigen Bücher zum Thema durchblättert, dem wird schnell deutlich, dass das Leben dort trotz einiger Privilegien kein Zuckerschlecken war. Das Ideal von Kameradschaft und Gemeinschaftssinn war oft wohl mehr das nach außen demonstrierte hübsche Abziehbild einer im Kern gnadenlosen Hackordnung (vgl. Leeb, S. 221 „Die Stärkeren befahlen, die Schwächeren gehorchten“). Um das durchzuhalten, mussten die Jungen, also auch mein Vater, lernen sich zu konditionieren: Selbst keine Schwäche zeigen, äußerlich und innerlich hart werden, nichts an sich heranlassen.

Wenn man nicht funktionierte oder gegen die Regeln verstieß, wurde man hart bestraft und/oder vor der versammelten Schule gedemütigt. Raum für Individualität ließ diese Form von Erziehung nicht zu. Hart zu werden, war daher nicht nur das angestrebte Erziehungsziel, sondern zugleich auch überlebensnotwendig für die Schüler.

Ehemalige Napola-Schüler, die bekennen, dass sie sich dort nicht wohl gefühlt haben, sprechen davon, dass der Drill dazu angetan war, „getriezt und in der Persönlichkeit zerstört“ zu werden. Die Ausbildung selbst sei „ideologisch verkümmert“ gewesen und hätte eigentlich nur dem Zweck gedient, aus den Schülern Kampfmaschinen zu machen (vgl. Leeb, S. 238). Zu diesem Zweck musste die Individualität des Einzelnen zerstört werden, „aus der eine neue aufgebaut werden sollte“ (Leeb, S. 239).

Die Ideologie der Erziehung an den Napolas fußte auf maximaler Unterwerfung und gleichzeitiger Vermittlung, zur Elite zu gehören: „Während wir über den Boden robbten, wurde uns doch gleichzeitig das Gefühl vermittelt, dass wir zur Elite gehörten, zu einem Führungskader.“ (Leeb, S. 239).

Und mein Vater war bis zuletzt stolz darauf, auf der Napola gewesen zu sein.

Literatur