Johannes Wiehle *26.7.1899 – Militarist mit zerschossener Seele
Was macht es mit der Seele eines Menschen, wenn er als 17-jähriger in den Krieg zieht und dann zwei Jahre seines Lebens im Dauerfeuer des Stellungskrieges verbringt? Wahrscheinlich bleibt nicht sehr viel Menschliches dabei übrig. Jedenfalls ist das der Eindruck, den ich von meinem Großvater Johannes im Wesentlichen habe.
Ich habe ihn persönlich kaum kennengelernt, weil wenig Kontakt zu ihm bestand. Auf die zerfallene Familie komme ich noch später zu sprechen. Was ich weiß ist, dass er wenige Tage nach seinem 17. Geburtstag in den Kriegsdienst musste. Der Erste Weltkrieg war zu diesem Zeitpunkt (1916) bereits zwei Jahre alt, die Stimmungslage in Deutschland war angespannt. Es folgten zwei Hungerwinter und nach allen Beschreibungen zur Lage der Frontsoldaten war diese schrecklich. Britische Kriegsberichterstatter berichteten zum Ende des Krieges über Gefangennahmen von unterernährten deutschen Soldaten.
„So entstand eine menschliche Tötungsmaschine.“
Schlimmer als der Hunger war freilich der andauernde Kampf um Leben und Tod. Und das nicht nur gegenüber dem „Feind“, sondern auch im Inneren. Disziplin und Gehorsam wurden mit brutaler Gewalt auch gegen die eigenen Leute aufrechterhalten; viele deutsche Soldaten kamen auf diesem Wege zu Tode. Bemerkenswert ist dabei, dass Johannes höchst dekoriert aus dem ersten Weltkrieg zurückkehrte. Nicht nur im Range eines Vizefeldwebels, sondern auch mit dem höchsten Orden, den das Kaiserreich zu vergeben hatte.
Die genauen Abläufe tauchten in den Erzählungen in der Familie nicht auf. Neu war für mich in meiner familiengeschichtlichen Recherche, dass mein Großvater überhaupt im Ersten Weltkrieg gewesen ist. Darüber, wie über so vieles andere, wurde in meiner Familie das Tuch des Schweigens gebreitet. Wobei es von den biografischen Daten her klar ist: Wer 1899 geboren wurde, musste in den Krieg.
Die Unterlagen des Bundesarchivs geben her, dass er zum Maschinengewehrschützen ausgebildet und als solcher auch eingesetzt wurde. Es ist naheliegend, dass er nicht nur „den Feind“, sondern auch auf die eigenen Kameraden geschossen hat – und zwar dann, wenn sie nicht schnell genug aus den Schützengräben kamen oder unter dem Feuer der gegenüberliegenden Briten in dieselben zurückkehren wollten. Anders sind sein Rang und die hohen militärischen Auszeichnungen kaum zu erklären.
So entstand eine menschliche Tötungsmaschine.
Nicht mehr im Leben angekommen
Im Leben ist er dann nicht mehr angekommen. Was nach dem Krieg folgte, war das, was man später „Notabitur“ nannte, dem folgte keine Berufsausbildung. Mein Großvater schlug sich mit Tätigkeiten in der Verwaltung, also Bürojobs, durch. Dabei wechselte er in etwa jedes Jahr die Stelle, bekam also in der Berufswelt keinen Fuß auf den Boden, was sich auch in der finanziellen Notlage der Familie widerspiegelte.
Wie wir aus der heutigen psychologischen Erkenntnis wissen, ist die Psyche eines Menschen nach Kriegstraumatisierungen in höchstem Maße belastet. Dass Johannes wie viele andere Soldaten im zivilen Leben nicht mehr Fuß fassen konnte, ist vor dem Hintergrund keine Überraschung. Auch andere Dinge zeigen die Folgen des Kriegstraumas, zum Beispiel dass er bereits im Lebensalter von 27 Jahren eine Vollglatze hatte, obwohl es dafür keine mir bekannte familiäre Disposition gibt.
Militarismus als Lebensanker
1925 schloss sich mein Großvater dann dem faschistischen „Stahlhelm – Bund der Frontsoldaten“ an. Der Stahlhelm galt als bewaffneter Arm der demokratiefeindlichen Deutschnationalen Volkspartei (DNVP). Wikipedia dazu: https://de.wikipedia.org/wiki/Stahlhelm,_Bund_der_Frontsoldaten
Der Stahlhelm war so gesehen eine Parallelorganisation zur SA mit dem klaren Ziel, die Weimarer Republik zu beseitigen und eine faschistische Staatsordnung einzuführen. Mein Großvater war dort in der Schießausbildung tätig, und machte dies ab 1928 auch hauptamtlich. Und das im Range eines Obersturmbannführers, im Verständnis der heutigen Dienstgrade war das ein Major. Im Militärischen fand er offenkundig seine Heimat.
„Mein Großvater war für den faschistischen Stahlhelm in der Schießausbildung tätig – ab 1928 machte er das hauptamtlich.“
Bemerkenswert ist, wie dies innerhalb der Familie überliefert wurde. Demnach wäre der Stahlhelm eine Sozialeinrichtung für Soldaten gewesen. Als Kind hatte ich das noch geglaubt – und meinte, mein Großvater wäre einer auch aus heutiger Perspektive wichtigen und gemeinnützigen Aufgabe nachgegangen.
Das Ende seiner Aufgabe als Schießausbilder kam mit der Machtübernahme der Nazis. Der Stahlhelm wurde, wie die meisten Einrichtungen, den entsprechenden Institutionen der Nationalsozialisten „gleichgeschaltet“. Damit wurde der Stahlhelm in die SA eingegliedert.
Dies war, wenn man so will, ein „Karriereknick“. Wie die Unterlagen deutlich ausweisen, wurde er zwischen verschiedenen Dienststellen umhergereicht, man fand keine wirklich geeignete Aufgabe für ihn. Damit, auch das lässt sich anhand von Briefen nachvollziehen, geriet seine Familie – zwischenzeitlich war Johannes verheiratet und hatte zwei Kinder – auch in wirtschaftliche Not. Nach mehreren Jahren fand Johannes dann doch eine Anstellung und wurde schließlich in der Biologischen Reichsanstalt für Land- und Forstwirtschaft verbeamtet. Später wurde er dann in den Reichsnährdienst übernommen. Seine Aufgaben lagen jeweils in der Verwaltung.
1937 trat er dann der NSDAP bei, 1938 wurde er als Hauptmann der Reserve beim damaligen Grenadier-Regiment 67 registriert. Der zweite Weltkrieg warf hier schon seine Schatten voraus. Mit dessen Beginn trat er sofort in die Wehrmacht ein und war auch dort für die Schießausbildung tätig. Wie seine militärischen Unterlagen gut nachvollziehbar machen, war er praktisch ausschließlich in der Lüneburger Heide. Bis zum März 1945 – wenige Wochen vor Kriegsende – wurde er als Kompanieführer einer Grenadierkompanie an die Front geschickt. Auch dies passt nicht zu den Erzählungen in der Familie. Demnach wäre er in Norwegen mit dem dortigen Expeditionskorps der Wehrmacht gewesen; darüber wurde allerlei phantasiert. Wieder einmal zeigt sich deutlich, dass der Umgang mit der geschichtlichen Wahrheit in meiner Herkunftsfamilie etwas lax gehandhabt wird.
Der Ludendorff-Glauben
Johannes Wiehle war ursprünglich protestantisch getauft, seine Frau ebenso. Mit der zunehmenden Hinwendung zu völkischen und faschistischen und damit auch antichristlichen Motiven änderte er das. Einerseits trat aus der Kirche aus und wandte sich, wie seine Frau, dem Ludendorff-Glauben (eigentlich: Bund für Deutsche Gotterkenntnis) zu. Dies war eine faschistische Ersatzreligion, die damals großen Zulauf hatte – und die bis heute in Deutschland mit etwa 12.000 Mitgliedern fortbesteht. Dieser Glaube lehnt das jüdisch-christliche monotheistische Weltbild als „dem Germanentum wesensfremd“ ab. Vielmehr denkt man in Rassenideologie und hält sich – ohne Gottesbild – für pantheistisch. Der Bund kennt keinen Kult und propagiert die Übereinstimmung mit Naturwissenschaften und der eigenen Philosophie. Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Bund_f%C3%BCr_Deutsche_Gotterkenntnis
Ferner änderte er seinen Vornamen von Johannes zu Hans, weil ihm Johannes zu christlich war. Die negative Haltung zum Christlichen zieht sich weiter durch die Generationen.
Auch Johannes Kinder waren Ludendorff-gläubig; bei meinem Vater weiß ich, dass er es bis zum Ende seines Lebens gewesen ist. Innerhalb der Familie und auch gegenüber anderen wurde jedoch erzählt, dass er katholisch wäre. Und weil meine Mutter evangelisch war, hätte man es meinem Bruder und mir überlassen wollen, später selbst zu entscheiden, welcher Kirche wir angehören wollten. Die Wahrheit ist, dass mein Vater schlicht dagegen war, meinen Bruder und mich taufen zu lassen. Ich bekam auf Intervention meines Vaters auch nicht den Vornamen Christian, den sich meine Mutter für mich wünschte, sondern erhielt ebenso wie mein Bruder Wolfgang einen germanischen Vornamen. Das folgte der faschistischen Familientradition, Hans-Rüdiger, der erste und einzige Sohn von Johannes Wiehle, trägt ja auch einen entsprechenden germanischen Namen.
Zerrüttete Familienverhältnisse
Johannes Wiehle war für seine Kinder kaum präsent. Die Situation in der Familie war einerseits angespannt durch finanzielle Engpässe und die schwierige berufliche Situation von Johannes, die ständige Wechsel und auch immer wieder längere Abwesenheiten zur Folge hatte. Andererseits hatte meine Großmutter gesundheitliche Probleme, die mehrere Kuraufenthalte nach sich zogen. Die Kinder wurden in der Zeit außer Haus betreut. 1940 kam noch ein drittes Kind dazu, ein weiteres Mädchen. Als die erstgeborene Tochter anfing zu rebellieren, wurde sie über mehrere Jahre in eine Erziehungsanstalt abgeschoben. Sie hat ihrer Familie und Deutschland im Alter von 21 Jahren – mit der damaligen Volljährigkeit – den Rücken gekehrt, und entschied sich auszuwandern (ich habe sie 2005 im kanadischen „Exil“ getroffen).
Johannes Wiehle kehrte nach der Kapitulation von Hitler-Deutschland 1945 nicht zu seiner Familie zurück. Er war der Überzeugung, die Russen würden ihn sofort einsperren und töten, wenn er in die sowjetische Besatzungszone nach Hause zurückgekommen wäre. Im Hinblick auf seine Vita ist das gut nachvollziehbar.
„Er kehrte nach der Kapitulation von Hitler-Deutschland 1945 nicht zu seiner Familie zurück.“
Nicht von ungefähr wurde dann auch seine Immobilie, eine Doppelhaushälfte in Kleinmachnow, südwestlich direkt am Rand von Berlin, von den ostdeutschen Besatzungsbehörden konfisziert und enteignet. Die Enteignung wurde später von den Behörden der Bundesrepublik bestätigt – ein entsprechender Rückübereignungsvertrag wurde mit sehr deutlichen Hinweisen auf die Rolle von Johannes bei der Beseitigung der Weimarer Republik abgelehnt.
In der Konsequenz blieb Johannes im Westen, im Raum Hannover. Seine Frau folgte später, das Paar trennte sich aber bald darauf. Die jüngste Tochter blieb zeitlebens bei der Mutter. Der Sohn Hans-Rüdiger, mein Vater, war zur Nazi-Zeit auf die Napola (Nationalpolitische Erziehungsanstalt) gegangen. Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches trieb er sich ein Jahr lang in Berlin auf der Straße herum, betrieb Schwarzhandel (das gab er freimütig zu) und führte wahrscheinlich ein Leben am Rande der Legalität. Er fand danach in der sowjetischen Besatzungszone keine gute Basis mehr, um seine Schulausbildung fortzusetzen. Schließlich ging er in den Westen und machte sein Abitur in Lübeck, wo er bei einer Gastfamilie wohnte. Er erzählte später, dass er dort zum ersten Mal so etwas erlebt hätte wie eine Familie.